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BALANCE

Balance ist kein fester Zustand, vielmehr verstehe ich die Balance als einen ständig fortlaufenden 'Prozess-im-Werden'. Sie benötigt eine besondere Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für das Große Ganze, aber auch das Detail. Der Aspekt der Balance tauchte während der Tree Encounters da auf, wo ich selbst dazu aufgerufen wurde mich innerlich (mental) zu zentrieren, als auch physisch meine Integrität zu wahren, eine gewisse Körperspannung zu halten um beispielsweise nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen und zu fallen.

Diese Begegnung war besonders geprägt durch das glitschig-feuchte Milieu der Baumrinde. Weiter oben entdeckte ich unzählige kleine Pilzhütchen, die eine faszinierende Landschaft bildeten. Das Begehen des schräg über das Wasser ragenden Stammes erforderte unter diesen rutschigen Bedingungen eine besondere Vorsicht. Es war zumeist nur ein langsames Vorantasten möglich, wobei meine eigene Körpermitte möglichst genau über dem Zentrum des Baumes zu balancieren war.

Parallel zur Wasseroberfläche ragt dieser umgestürzte Baum mitten auf den Karpfenteich hinaus. Als balanciere man auf einer Planke über dem Abgrund... Da dieser Baum schon verstorben ist, offensichtlich morsch und gebrechlich, habe ich einen besonderen Respekt vor der Fragilität dieses Baumkörpers. Fasziniert spiele ich mit den Spiegelungen des Wassers. Ein Paradox des Sicherheits-Gefühles entsteht: irgendwie ist 'der Boden' nah (ich erklimme keine waghalsigen Höhen) doch der Baum ist besonders fragil, und ich will dennoch nicht nass werden. 

Die 'Baum-Säule' habe ich ihn in meinen Notizen genannt. Wie Skulpturen der Natur, ein Säule-Gang, säumen diese Bäumchen das Kanalufer. Es balanciert sich wie auf einem Sims rundherum, halb stehend auf den knubbeligen Auswüchsen des Stammes, halb hängend an den 'Schirmchen-Speichen' der Baum-Krone.

Mit atemberaubender Aussicht auf einen Seerosen-bedeckten Teich lerne ich diesen Baum kennen. Mit Vorsicht, denn so viele tragende Äste diese Eiche auch bietet, ihr steil-schräg nach oben ragender Wuchs und eher dicken Durchmesser lassen diese Begegnung doch schnell zu einer Wackelpartie werden während ich oft an den Stamm gelehnt mit den Füßen auf den Ästen das Gleichgewicht suche. Dennoch gibt mir die Begegnung eine innere Ruhe und einen besonderen Raum meine physische und mentale Mitte zu finden.

Die ausladenden Äste bis nahe über dem Boden laden förmlich ein, in den Kronenleuchter-ähnlichen Armen dieses Baumes Platz zu nehmen. Ich muss mich strecken um Etage für Etage die Krone zu erklimmen. Ich fühle mich ein bisschen wie beim 'Drei-Mann-Hoch', einer akrobatischen Übung, bei der man Schulter auf Schulter als dritte Person auf zwei anderen 'Untermännern' (oder Frauen) steht. Dort ganz hinauf zu kommen erfordert eine besondere Technik, den eignen Körper ganz eng an dem des anderen zu halten, was ich auch irgendwie mit Paar-Tänzen assoziiere, meist einen Arm 'um die Hüften' des Baumes geschlungen, mein Körperzentrum nah dem Stamm merke ich gar nicht, dass ich schon viele viele Meter über dem Boden bin. Wenn ich oben die Augen schließe spüre ich das sanfte Schwanken der Krone.

Auf dem Weg hinunter bemerke ich dass ich immer wieder Gliedmaßen komplett durchstrecke. Auf irgendeine Art helfen mir diese klaren geraden Linien meines Körpers bei der räumlichen Orientierung. Ich erinnere mich an ein Statement des Philosophen und Fliegenden Trapez-Artisten Sam Keen: “Looking good on the trapeze is a matter not of vanity but of necessity. 
If the movement isn’t graceful it isn’t right.” (Keen, 2000).

Diese Baumbegegnung hat keinen ästhetischen Bewegungszweck, ich habe kein Bedürfnis 'schön' auszusehen, aber die in den Bewegungskünsten viel beschworenen 'Linien' haben eben auch eine tiefgründigere Bedeutung, einen tatsächlichen 'technischen' Sinn...