"Eines Tages nicht mehr". Videoarbeit von Luise Voigt.

DAS GESPENST IM O-TON


Die Audiokassette, auf der die eigene Kinderstimme festgehalten ist, die Stimme, die einmal zu uns gehörte und die nun verschwunden ist; auch die Stimme der Urgroßmutter und anderer Verstorbener, die einmal zu uns gehörten: die akustische Spur einer verlorenen Stimme, offenbart die gespenstische Kraft des O-Tons als Herübergerettetes, als Einschluss eines nicht wiederholbaren Moments an einem spezifischen Ort in einem spezifischen historischen Kontext und, all das einst mit Haut umspannend, der bleibende akustische Überrest eines einmaligen Menschen.

Die Erinnerung an die frühe Wahrnehmung der Musikalität des Sprechens der Mutter und des Vaters, sanfte, bettende, berauschende Klänge, auch die Donnerschläge sich veräußernder Wut oder die Nadelstiche leiser, aber vehementer Kritik weisen darauf hin, wie die Stimme mit der Sprache eine ganze Welt mitsendet, insofern sie weit über die Bedeutung des Gesagten hinaus wirkt und eine ganze Reihe von sinnlichen und emotionalen Reaktionen hervorruft.

Die Stimme eines Einzelnen, festgehalten auf einem akustischen Medium, bietet sich als eine komplexe Partitur an, der wir uns als Gruppe huRRa!! in dieser Arbeit widmen wollen. Sie gibt uns Rhythmen, Tonalitäten und Dynamiken vor; sie enthält Informationen über den Körper (Stimmsitz, Farbe etc.) und sie transportiert historische, regionale und gesellschaftliche Kontexte (Ausdrucksweise, Dialekt). Außerdem bringt sie neben den semantischen Aspekten des Gesprochenen Haltungen, Emotionen und Wesensarten zum Ausdruck.

All diese Instrumente zur Reanimation verschwundener oder paralleler Wirklichkeiten machen es uns möglich, Gespenster zu wecken und sie mit uns in Interaktion treten zu lassen.

FOUND FOOTAGE

Die Stimmen der Dagewesenen, verkörpert durch die Anwesenden

 

Um die Stimmen der Dagewesenen in Erscheinung treten zu lassen, möchten wir in einem Teil unserer Arbeit mit ortspezifischem found-footage Material arbeiten (siehe Arbeitsprobe "Eines Tages nicht mehr"). Über persönliche Recherche und öffentliche Aufrufe begeben wir uns auf die Suche nach den akustischen Hinterlassenschaften der Toten der Stadt Gelsenkirchen. Erinnerungsmaterial aus Privatbesitz, festgehalten auf Tonband, Super 8, Audiokasetten, VHS und Ähnlichem bilden unser Archiv.

Innerhalb dieses vorgefundenen Materials gehen wir dann auf die Suche nach Momenten, die die Inszenierung vor dem Mikrofon unbewusst unterlaufen. Das kann die wiederholte, zischenden Aufforderung des Vaters an den Sohn sein: “Gib der Oma jetzt die Blumen!” oder ein kurzes Zwischenfragen beim Erzählen der eigenen Biografie: “Ist das wirklich so gewesen? Weißt Du das nicht mehr?” Momente, die aus der Inszenierung fallen, ein ungewollter Überrest, festgehalten und gespeichert auf dem Medium. Es sind dies die Momente, die eine gewissen Unschärfe evozieren: Das akustische Material wird paradoxerweise da dichter und kommt uns da näher, wo Fehler passieren, etwas sich dem Zweck der Aufnahme Unangemessenes ereignet oder sich etwas ungewollt mitartikuliert.  

Um dieses Material nun unter die Anwesenden zu bringen, werden die verschiedenen Ebenen der Stimme mit Hilfe verschiedener theatraler Mittel Schicht für Schicht erforscht und in eine künstlerische Form übertragen.

Zunächst widmet sich eine TänzerIn dem Material, indem sie die enthaltenen Informationen über den Körper des Abwesenden herausarbeitet und in eine eigene Bewegungssprache überführt. Auf diese Weise versucht sie einen Teil von ihm zu vergegenwärtigen, inkorporierend, verstärkend oder konterkarrierend zum Gehörten.

In einem nächsten Schritt widmet sich ein Schauspieler dem Anteil in der Stimme, der Figureninformationen für ihn enthält. Das bezieht sich sowohl auf den semantischen Teil des Materials, als auch auf die Sprech- und Ausdrucksweise, sowie auf musikalische Elemente der Stimme: Sprechmelodie, Sprechrhythmus etc.. Die Stimme des Schauspielers wird die O-Ton-Stimme nun zum Teil übertönen und overdubben. (Siehe Arbeitsprobe “The Black Hole Theatre”).

TänzerIn und SchauspielerIn ergänzen sich nun zu einem Körper und einer Figurenstimme.

Als drittes kommen Sänger und Instrumentalisten hinzu: Sie widmen sich einer Notation, die aus dem O-Ton-Material abgeleitet wurde und sich aus den Tonalitäten, Rhythmen und Dynamiken der Stimme speist. Diese Notation soll die Grundlage für einen eigenständigen kompositorischen Zugriff auf das Material bilden. Die Komposition kann sowohl für Sänger und Instrumentalisten, als auch für Tänzer und Schauspieler konzipiert sein.

FORMAT UND INSZENIERUNG


Eine zentrale Setzung für das Format von GESPENSTER (AT) ist die Entscheidung, den Zuschauerraum und den Raum der Akteure nicht voneinander zu trennen, sondern einen gemeinsamen Raum zu gestalten. Dieser Raum soll zunächst als eine begehbare Installation von Zuschauern und Akteuren betreten werden und die Möglichkeit bieten, das O-Ton-Material kennenzulernen, bevor die künstlerische Überformung dessen durch die Akteure einsetzt.

Wir denken in der Beschaffenheit dieses Ortes an einen geschlossenen Privatraum, von dem aus Fenster und Türen ein Außen markieren. Fenster und Türen dienen als Projektions- und Lichtflächen, sowie als Schattenwände und Schallquellen. Mit Hilfe dieser Flächen können verschiedene Kontexte geschaffen werden. Beispielsweise kann eine historische Stadtsillhoutte, inszeniert als Blick aus dem Fenster, das found-footage-Material historisch einbetten. Zum andern kann zum Beispiel die Vorstellung eines Kindes, wie der Ort der Gestorbenen aussieht, als Inspirationsquelle für einen Licht-oder Videoeinsatz dienen. Die Schatten derer, die durch die Installation gehen, können aufgezeichnet und wieder projiziert werden, wenn die Zuschauer längst Platz genommen haben. Die aufgezeichneten Stimmen können als Sound am Zimmer vorbeigehen, so wie man manchmal die Gespräche von vorbeilaufenden Passanten mithört.    

Zuschauer und Akteure sind zunächst nicht von einander zu unterscheiden. Sie bewegen sich eigenständig durch den Raum und entdecken unterschiedliches Material an unterschiedlichen Stellen im Raum. Erst im Moment der ersten Zugriffs auf das Material entsteht eine Mitte, eine Bühne, beispielsweise durch die beginnende Inkorporation des Tänzers. Die Zuschauer nehmen die künstlerische Aktion nach und nach wahr, nehmen Platz und schauen dem Tänzer zu. Aber nicht alle Akteure treten aus dem Publikum heraus, zum Beispiel erhebt sich die Stimme eines Sängers oder Schauspielers inmitten der Zuschauer in einer Ecke des Raumes. Diese, in ihren Grundzügen immersive Inszenierungsweise zielt ab auf die Erfahrbarkeit einer Gemeinschaft der Dagewesenen, Anwesenden und Kommenden.

Für GESPENSTER (AT) schwebt uns eine eigene, neue Form des Musiktheaters vor; ein Theater, das reichhaltig ist im Sinne der Mittel: es kann Installation sein und im selben Moment zum szenischen Konzert werden. Es kann Momente heraufbeschwören, die dem Schauspiel entlehnt sind, um im nächsten Moment rein instrumental zu funktionieren. Für uns ist der O-Ton - in all seinen Facetten als Sprechtext, als Gesangspartitur, als Audio-Spur oder als Vorgabe für einen kompositorischen Ansatz - eine organische Basis, von der aus sich große Themenkomplexe sehr geerdet erschließen lassen. Für uns bietet diese Form des Arbeitens eine reichhaltige formale wie auch inhaltliche Auseinandersetzung, die jedes Mal ein Schritt ins Unbekannte ist, das man sich lustvoll erschließen darf.

GESPENSTER


Leben zu lernen, so Jacques Derrida, bedeutet, von den Gespenstern zu lernen (in: “Marx’ Gespenster”). Nur sie hätten die Möglichkeit, auf unser Leben zu blicken; ob es sie gebe oder nicht, sei für diesen Standpunkt hinfällig. Und in der Tat: Sprechen wir von Gerechtigkeit und Verantwortung und wollen wir die Verhältnisse, in denen wir leben, verstehen und gestalten, so müssen wir uns immer zu denjenigen in Beziehung setzen, die vor uns waren und zu denjenigen, die noch kommen werden. Wir müssen stets ihren Blicken standhalten.

Nur beim Sterben bleibt das Feld scheinbar uns selbst überlassen, uns Einzelnen. Oder können wir von den Gespenstern nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben lernen? Können wir unter ihren Blicken denken lernen, dass wir uns in der Masse derer aufhalten, die vor uns waren und die nach uns kommen? Diese Sicht lenkt die Aufmerksamkeit auf das Leben als Teil einer Gemeinschaft der Menschen über die Zeit. Aus unserer künstlerischen Forderung heraus, dem Sterben und dem Tod eine dringend notwendige Kultur zu geben, soll das Theater hier unser Medium sein, die Gespenster in Erscheinung treten zu lassen und sie mit uns in Kontakt zu bringen. In einem Abend der Gemeinschaft aus anwesenden und abwesenden Stimmen, wollen wir uns endlich dem Sterben näher bringen. Denn wir wollen nicht länger getrieben und gescheucht sein von unserer auf unendliches Wachstum und permanente Erneuerung ausgerichteten Gesellschaft, wir dürfen nicht länger abgehalten werden von einer absolut unverzichtbaren Lebensaufgabe eines jeden Menschen: nämlich seine eigene Endlichkeit anzuerkennen und mit ihr umgehen zu lernen.

INTERVIEWMATERIAL
Die verlorenen Stimmen, die kommenden Stimmen im Aufführungsmoment


In einem zweiten Arbeitsschritt wollen wir Interviews mit Gelsenkirchener Alten und Kindern führen. Wir wollen sie nach ihren Vorstellungen davon befragen, wo die Gestorbenen und die noch Ungeborenen sind. Man kann diese Fragen abstrakt stellen, als weltanschauliche bzw religiöse Fragen. Man kann sie aber auch ganz konkret machen und nach klaren Bildern suchen: “Wie sieht es dort aus?”, “Was machen die da?” usw. In den Interviews gilt es, zunächst eine Vertrauensbasis herzustellen. Dies kann in der Regel nur über eine längere Abfolge von Gesprächen passieren. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, jene Form von Interview zu führen, die Luise Voigt über Jahre der Arbeit mit dem O-Ton-Material geformt hat, und die die Interviewten zu einem Punkt des Nicht-wissens führt, an dem sie sich lustvoll abarbeiten, ohne exibitionistisch zu werden.

 

Dieses Material holen wir auf die Bühne, indem wir die Körper vertauschen und dadurch im Anwesenden auf das jeweils Abwesende verweisen. Das bedeutet konkret:

Wir haben aus einem Interview mit einem Kind einen Monolog geschnitten und übergeben das Material einem alten Menschen. Dieser studiert das Material des Kindes möglichst genau ein, wobei er nicht nur die Texte, sondern auch die Sprechmelodien, Sprechrhythmen, Atmer, Versprecher und Aussetzer einbezieht. Die Verkörperung des Kindes durch den Alten wird zur Aufführung gebracht. Das heißt das Kind spricht mit seiner kommenden, aber noch abwesenden Stimme. Der seines kommenden Alters.

Auch das umgekehrte Prinzip wollen wir umsetzen, sprich: ein Kind bringt das Material eines alten Menschen zur Aufführung und der Alte würde nun also mit seiner verlorenen Kinderstimme sprechen.

Mit Hilfe dieser Methode erschaffen wir die Gespenster im und durch den Moment der Aufführung.

Bestand im ersten Teil der Arbeit die Grundbewegung aller Mittel vor allem darin, die künstlerischen Zugriffe aus dem vorhandenen Material als eine Art Metapartitur abzuleiten, besteht die Grundbewegung in diesem Teil der Arbeit eher im Aufeinanderprallen eines Stimmrecordings mit einem sich der Inkorporation widersetzenden Körpers. Diese Grundbewegung der Konfrontation des O-Tons mit einem “Widersacher” könnte auch für einen kompositorischen Zugriff zum Grundprinzip werden.