Knapp fünfhundert Buchen rund um den Großen Stechlinsee im Norden Brandenburgs, Deutschland, sind mit Ritzungen versehen. Die ältesten der Ritzungen stammen aus den 1920er Jahren. Es gibt Ritzungen aus der Nazizeit und viele aus den 1950ern bis 1980ern. Ich wollte wissen, was uns diese Zeichen über die Geschichte des Sees und seine Besucher*innen erzählen

Am Stechlin gibt es mehr als 487 Buchen mit Ritzungen. Ich habe von diesen Bäumen die Koordinaten mit einem GPS-Gerät aufgenommen und sie fotografiert. Läuft man um den Stechlin, findet sich im Schnitt alle 30 Meter ein markierter Baum.

Die markierten Bäume sind nicht zufällig um den See verteilt. Die Hälfte aller markierten Bäume hat einen Abstand zum nächsten Nachbarn von weniger als 14 Metern.

Die markierten Bäume häufen sich um die Badestellen. Sie finden sich meist am Wegesrand, zum Weg hin gerichtet, damit man sie sieht. Am dichtesten gedrängt sind sie nah am Dorf Neuglobsow.

Tattoo Bäume
Die meisten Ritzungen sind einfache Initialen oder Kombinationen von Initialen die mit einem + Zeichen verbunden sind.

An manchen Bäumen wurden aber auch aufwändige Symbole oder längere Textabschnitte eingeritzt. Einige Bäume sind übersät mit Ritzungen und tragen ein wildes Sammelsurium von Zeichen.

Auf anderen Bäumen sind Serien von Jahreszahlen, die von wiederkehrenden Besuchen zeugen.

Es gibt Bäume, an denen sich Generationen von Badegästen verewigt haben.

Bäume mit Datum
Mehr als ein Viertel aller geritzten Bäumen haben datierte Ritzungen (127 Bäume). Die älteste stammt vermutlich aus dem Jahr 1922. Es gibt noch eine weitere aus dem Jahr 1923, eine aus den 1930gern, drei aus den 1940ern, achtzehn aus den 1950ern, jeweils mehr als zwanzig aus den 1960-1970ern, fünfzehn aus den 1980ern, elf aus den 1990ern, zehn aus den 2000ern, und fünfzehn aus den 2010ern.

Die Häufigkeit reflektiert den Tourismus. Der blühte zu DDR-Zeiten. Damals gab es bis zu 1000 tägliche Übernachtungen im Dorf. Zudem gab es bis 1966 noch einen wilden Campingplatz in der Nordbucht. Auch vom Kraftwerk her kamen aktive Ritzer*innen.

Badebuchten
Die meisten Ritzungen finden sich an der Ostbucht, an der Spitze der Halbinsel, wo sie dem Ort Neuglobsow am nächsten ist und an den Badestellen der Nordbucht,  wo sie "Sonnenbucht" heißt.
An der alten Dorfstelle um Stammstechlin, am Nordufer, finden sich viele Ritzungen an alten Buchen. Sie befinden oft direkt am Ufer und sind seewärts gerichtet obwohl das Ufer seewärts Schilfbestanden ist.

Vermutlich gab es zu der Zeit als dort die Ritzungen hinterlassen wurden noch Badebuchten.

Heute sind sie verschilft, weil der See seit den Jahrzehnten, die seit den 1960er Jahren vergangen sind, deutlich nährstoffreicher geworden ist.

Narben
Es gibt auch Stellen am See, an denen es viele Buchen mit narbiger, verletzter Rinde gibt. Die Narben sind verwachsen und schwer zu deuten.

In der Sonnenbucht am Nordzipfel des Sees und westlich der alten Fischerhütte, sind solche Buchen besonders häufig.

Auf alten Karten zeigt sich, dass sich dort einmal wilde Campingplätze befanden. Vielleicht markieren die Narben alte Nägel und Befestigungen von Schildern, die an ihnen angebracht wurden. Vielleicht sind es auch, unleserlich gewordene Ritzungen.

Wachstum
Die Ritzungen sind meist auf Augenhöhe angebracht. Mit den Jahren wuchsen die Bäume zwar in die Höhe, doch unten am Stamm da weitete sich nur ihr Umfang.

Alte Ritzungen, wenn sie an junge Buchen gesetzt wurden, sind daher oft verzerrt, wie eine Zeichnung, die man auf einem Luftballon anbringt bevor man ihn aufbläst. Sie befinden sich noch immer auf der originalen Höhe, auf der sie angebracht wurden.

Alte Ritzungen, die an alte Buchen gesetzt wurden, sind hingegen kaum verändert. Buchen werden bis zu dreihundert Jahre alt. Im Alter wachsen sie immer langsamer.


Das Mysteriöse K
Es gibt viele wiederkehrende Buchstabenkombinationen. Ritzer*innen, die einmal einen Baum markierten, hinterließen oft  an mehreren Bäumen ihre Zeichen.

Niemand hat jedoch so viele Bäume geritzt, wie die mysteriöse Person mit der Initiale „K“.

Rings um den Stechlin gibt es 21 Bäume, die mit einem einzelnen K markiert wurden. Dabei sieht das K nicht immer ähnlich aus. Manchmal ist es eine feine Ritzung in einem alten Baum, manchmal eine breite Narbe an einem schmalen Baum. Oft ist das K, dort wo es steht, die einzige Ritzung. Vielleicht wurde es auch nicht von einer einzelne Person angebracht und steht für etwas Anderes als einen Namen.

Die Herzen
Herzen sind mit Abstand die häufigsten Motive an den Buchen des Stechlin. An 67 Bäumen gibt es Herzen. Das sind 14% aller geritzten Bäume.

Es gibt viele Varianten. Die einfacheren haben Paare von Initialen darin, darüber oder darunter. Manchmal sind sie mit einer Jahreszahl oder einem Datum versehen.

Es gibt Herzen aus allen Jahrzehnten. Durch manche der Herzen geht ein Pfeil, andere sind besonders fein gezeichnet. Manche sind dick, manche sind dünn.

An einem Baum befindet sich kein Herz, sondern die Zeile „I love you“.

Hakenkreuze
Die deutsch-israelische Schriftstellerin Lola Landau, die in den 1920-1930ger Jahren am Stechlin lebte schrieb, bevor sie von dem Ort vertrieben wurde: “Auf unserer Wanderung durch die Wälder sahen wir das Zeichen des Hasses in viele Bäume eingeschnitten, das Hakenkreuz der Nationalsozialisten. Es stand für nationale Rache und Rassenhass. Schon hatte es viele Dörfer des Landes erobert.1
An neun Bäumen habe ich Hakenkreuze entdeckt. Manche sind verwachsen, andere sind überzeichnet, manche sind überdeutlich.

Sowjetstern
Es gibt zwei Bäume mit einem Sowjetstern. Ein Stern ist in die Rinde einer sehr alten Buche eingeritzt. Ein anderer ist leicht verzerrt und in eine schmale Buche eingeritzt.

Die Ähnlichkeit der Sterne mit anderen alten Markierungen, ihr Verwachsungsgrad und das Alter der Bäume, an denen sie angebracht wurden, deuten darauf hin, dass sie viele Jahrzehnte alt sind. Datiert sind sie nicht.

Vielleicht wurden sie von Sowjetsoldaten angebracht. Vielleicht aber stammen sie auch von deutschen Kommunisten .

Runen
Runensymbole finden sich an sieben Bäumen. Sie stammen vermutlich aus der Nazizeit.

An zwei Bäumen befindet sich die Raute der Odal-Rune und an wenigstens drei anderen ist die pfeilförmige Tyr Rune zu sehen.

Beide Symbole wurden von der Hitlerjugend genutzt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich einige Runen auf der Halbinsel finden.

Dort unterhielt in den 1940ger Jahren die Hitlerjugend große Sommerlager. Bis zu dreitausend Jungen hausten in dieser Zeit in jedem August in den Wäldern.

Kyrillisch
An 14 Bäumen befinden sich kyrillische Beschriftungen. Die meisten davon sind einfache Initialen. An einem Baum steht „Ростов и Дон“

Viele Bäume mit kyrillischen Beschriftungen finden sich rund um die alte Fischerhütte und auf der Halbinsel. Einige der Ritzungen sind mit Daten aus den 1970-1980ern versehen.

Sie stammen vermutlich von Sowjetsoldaten, die in der DDR-Zeit in Fürstenberg und Umgebung stationiert waren und die manchmal in den Sommermonaten wochenlang in den Wäldern rund um den Stechlin lagerten, wenn sie ihre Manöver abhielten.

Vulven
An zehn Bäumen gibt es Symbole von hochkant stehenden Rhomben mit einem Strich in der Mitte. Diese Symbole interpretiere ich als Vulven.

In den 1970ger und frühen 1980ger Jahren sah ich diese Symbole häufig, z.B. in öffentlichen Toiletten. Sie galten als obszön und sie zu zeichnen war ein vulgärer Akt. Ich vermute, dass die Vulven am Stechlin aus dieser Zeit stammen. Das Symbol scheint heute nur noch in Osteuropa (Tschechien, Ungarn) auf ganz ähnliche Weise populär zu sein.

Die Rhombensymbole konzentrieren sich am Süd- und Ostufer, dort wo sich in dieser Zeit auch die meisten Badegäste tummelten.

Die Mordbuche
Die Mordbuche ist eine sehr alte Buche am Ostufer des Sees. Sie zeigt eine Person mit Hut, die ein Gewehr auf eine Person mit Rock richtet

Die Ritzung erzählt die Geschichte eines Femizids der sich im Jahr 1903 an dieser Stelle zugetragen haben soll.

Damals, so wird erzählt, spazierte die Hochzeitsgesellschaft der Tochter des Oberförsters am Seeufer entlang. Die Braut wurde hinterrücks von einem unglücklich verliebten Förster erschossen, der sich hernach selbst tötete.

Die Ritzung ist vermutlich nicht älter als aus den 1920gern und sie ist heute eine kleine Tourist*innenattraktion.

Der Baum ist auch im Kataster der Naturdenkmäler des Land Brandenburg eingetragen.

Andere Besonderheiten
Unter den Besonderheiten, die sich in den Ritzungen an den Buchen rund um den See befinden, können hier noch aufgezählt werden:

Ein Baum mit der Aufschrift „Glück Auf, 1966“;

ein Baum mit einer Glocke, und ein Baum mit der Aufschrift „G.O.L. Ökotoilettenshow von Yelda und Markus“ ohne Datierung; (i.e., G.iggling O.ut L.oud)

sowie zwei Bäume mit Gesichtern und eines mit einem Strichmenschlein.

Peace
Einem Baum wurde ein Peace-Zeichen eingeritzt. Vielleicht stammt es aus den 1970-1980gerJahren.

Nach 1968 entwickelte sich das Zeichen, besonders in den USA und Westeuropa, zum Symbol der Friedensbewegung.

In der DDR war es, vermutlich im Kontrast zur ideologisch verbrämten Friedenstaube, Zeichen einer subkulturellen Jugendkultur, der Blueser*innen, die sich an den Hippies Westeuropas orientierten.

Von Zeit zu Zeit machten auch die Berliner Blueser*innen Urlaub am Stechlin.

Eine Karte mit Fotos aller Ritzungen und Hintergrundinformationen findet sich hier.

Danksagung: Das Projekt wurde ermöglicht durch ein Kurzzeitstipendium vom Stechlin Institut (11/12 2023). Mein Dank gilt Romy und Stef Richter (Neuroofen), Silke Oldorff (Menz), Robert Schnüll (Berlin).