Stilistische Tendenzen in der Vokalkomposition der Gegenwart (Ausschnitt aus: Bachelorarbeit Taro Kaube, 2017)
 


Ausschnitt aus der Analyse zu Adriana Hölszkys Vokalkomposition Formicarium:
 
[…] Eine Kulmination dieser Entwicklung ist vielleicht in Formicarium (2010), Adriana Hölszkys jüngstem großformatigen Vokalwerk, zu finden. In der 20-minütigen Komposition für 36 gemischte Stimmen wird kein Text benutzt. Gab es in umsphinxt (2000/20001) noch ein Wechselspiel zwischen verwendeten Wörtern, Textbausteinen und ganzen Passagen ohne ein einziges Wort, bewegt sich Formicarium in einer Ausdrucksweise fernab der Wortsprache.
Stattdessen bedient sich Hölszky eines anderen Vokabulars. An die Stelle von artikulierten Worten treten alternative  Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme. Neben dem gesungenen Ton ist sie sich der unzählbaren Laute bewusst, die von der Stimme produziert werden können, angefangen bei Flüstern, Rufen, Weinen und Lachen, Stöhnen, Schreien und Stottern - die ja schon in der Musik des 20. Jahrhunderts Verwendung fanden[1], werden mit hoher Differenzierung  die Möglichkeiten der Stimme als Darstellungsorgan und Übertragung von Gedanken, Emotionen und Prozessen untersucht. Mit präziser Beschreibung wird ein Kompendium von Lauten  erstellt:
Singstimme, Sprechstimme, Murmelstimme, Flüsterstimme, Knarrstimme[2], Pfeifen, Flatterzunge.[3] Dazu wird das Spektrum an klanglichen Möglichkeiten durch  verschiedenste Geräusche und gestische Einsätze erweitert: Aus-und Einatmen, Lippengeräusche, Schnalzen, Fingerschnipsen. Sehr deutlich werden die unterschiedlichen Ausführungen in ihrem Charakter definiert und variiert: so unterschiedet Hölszky zwischen der Ausführung  mit offener und geschlossener Mundstellung, Dynamik des Atmens (sehr intensiv, so kurz wie möglich), Tönen mit zusätzlichem Handvibrato[4], Impulssetzungen, dem Versehen von Sprechstimme und Sprechgesang mit übertriebenem Hauch, den verschiedenen Arten von Schnalzen (Richtung Gaumen oder  Zähne)   - und kombiniert diese miteinander.
Einen Überblick und Erläuterung über das verwendete Vokabular an Ton-, aber weit überwiegend Geräuscherzeugungen, stellt sie vor die Partituren ihrer Werke. Die Vokaltechniken werden mit einem jeweiligen Symbol und kurzer Ausführungsanweisung versehen. Beispielweise ist der Einsatz der Knarrstimme durch einen diagonal durchgestrichenen oder das Schnalzen durch einen eckigen, vertikal durchgestrichenen Notenkopf symbolisiert (siehe Anhang).
Aus diesen exakt definierten Anführungen und den detailreichen Schattierungen Hölszkys im Vorwort ihrer Partituren wird mehr als deutlich, dass eine intensive und systematische Auseinandersetzung mit den physischen Möglichkeiten des Stimmapparats erfolgt ist.
Insbesondere das Geräuschhafte ist ein gewichtiger Teil und typisch für die Klangwelt Adriana Hölszkys. Eine große Neugier auf unerwartete und ungewohnte Klangquellen und –vermischungen ist nicht nur in den Vokalwerken deutlich erkennbar, sondern ebenso Merkmal des Gesamtwerks. Es scheint eher ein Universum an Klängen, als Töne im herkömmlichen Sinn, in den Vordergrund gerückt zu werden.
 
Formicarium – Überlegungen zur Analyse im Bezug auf das Gesamtwerk
 
Formicarium lebt genau von dieser eigenen „Geräuschanästhetik“.  Dieses Stück funktioniert, wie in der Anlage auch ihre vorherigen Vokalwerke, auf der Ebene eines Instrumentalstückes. Es gibt keinen Text, der eventuell strukturierend  in den Arbeitsprozess einbezogen werden könnte. Stattdessen ist dieses Werk inspiriert von einem Naturphänomen: dem Zusammenleben der Ameisen. Hölszky: „Ich habe viel über Formicarien, also spezielle Terrarien zur Beobachtung und Haltung von Ameisen, gelesen und fand, dass die künstliche Haltung von Ameisen genau das ausdrückt, was in diesem Werk dargestellt ist.“[5]
Die 1953 als Rümaniendeutsche in Bukarest geborene und seit 1976 in Deutschland lebende Adriana Hölszky stammt aus einer Familie von Natruwissenschaftler*innen. Schon in ihrer Kindheit zeigte sie Interesse für die „allwissende“ Naturwelt. [6] Die künstlerische Gestaltung von Naturphänomenen und  –prozessen lässt sich, abgesehen von Formicarium, in Werken wie Der gute Gott von Manhattan (2004) und Die Hunde des Orion (2009) finden. Anhand von Formicarium können einige Arbeitsweisen, die maßgeblich für die Klangkunst und Arbeitsweise Adriana Hölszky sind, nachvollzogen werden.
Beim ersten Hören und Betrachten der Partitur kann leicht der Eindruck des Chaos entstehen. Ein Werk von monumentalem Ausmaß[7] –  ohne gekennzeichnete Absätze durchkomponiert. Allein die verschiedenen technischen Parameter innerhalb der Notation zu identifizieren, erfordert einige Mühe. Die Tempobezeichnungen und Taktarten sind in ständigem Wandel. Innerhalb des gesamten Werkes existieren unzählbar viele kleine Motive, die sich ständig abwechseln, gegenseitig anstoßen oder verbinden. Tatsächlich stehen aber die einzelnen Aktionen immer im Zusammenhang zueinander: es erfolgt grundsätzlich eine Interaktion. „Die einzelnen Elemente existieren zwar unabhängig voneinander, werden aber durch eine Art ´strukturelle Gravitation´ (Hölszky) Teile des gesamten Gewebes.“[8] Formicarium beginnt mit verschiedenen simultan ablaufenden Prozessen:
Die Vokalist*innen sind in 4 Stimmgruppen (SATB)  mit jeweils 9 Sänger*innen aufgeteilt, wobei jed*r Sänger*in eine eigene Zeile der Partitur zuteil hat.
Bass- und Sopranstimmen bedienen zusammen ein Motiv (langer, sehr intensiver Ausatmer mit Handvibrato), wobei sie sich jedoch innerhalb der eigenen Stimmgruppe durch individuell zugeteilte Zischlaute („Ts“, stimmloses „S“, „F“ und stimmhaftes „W“) im Charakter des Geräusches unterscheiden. Die Koordinierung der Einsätze variiert jedoch zwischen den beiden Stimmgruppen:  der Sopran setzt in sich geschlossen erst nach dem Bass ein. Konsequenz ist ein unruhiger, heterogener und nicht definierbarer Zischklang.
Das zweite Motiv verbindet Alt und Tenor: Einsatz auf gerolltem „R“ -  im Tenor mit der Mundstellung „u“ auf dem Ton g1 und im Alt mit der Mundstellung  „e“ auf dem Ton as1. Auch hier ist das Prinzip der Tonerzeugung deckungsgleich, unterscheidet sich jedoch in der Ausführung. Dazu kommt, dass die Struktur der Einsätze variiert: Der Alt setzt abwechseln von unten nach oben (Klammerbewegung) ein, während der Tenor von unten nach oben wie in einer Kettenreaktion einsetzt. Zeitlich sind die Einsatze jeweils im Abstand einer Achteltriole aufeinander folgend organisiert.
Allein aus diesem ersten Takt können Prinzipien der Arbeitsweise Adriana Hölszkys erkannt werden: Chaos und Struktur (was im Gesamtklang undefiniert erscheint, folgt tatsächlich einer exakten, für Außenstehende nicht sofort erkennbaren Ordnung), Aktion und Reaktion („Kettenreaktionen“) und das Denken in kleinen Keimzellen (Motiven oder auch Stimmgruppen). „Diese Chaos-Ordnung-Relation wird von Hölszky als „Gleichzeitigkeit“ der komplementären Kräfte definiert: ständige Transformation zwischen maximaler Individualisierung (Differenzierung) und Homogenisierung (Integration).“[9] In der Struktur eines  Formicariums (Formicarien schließen meist mit einer Glasscheibe ab, durch die man Einsicht in den Querschnitt der unterirdischen Kammern, das sog. Nest, hat) kann die Organisation und Interaktion innerhalb der Insekten verfolgt werden: jedes Insekt hat eine Aufgabe, agiert aber nicht autonom, sondern immer im Hinblick auf die Funktion innerhalb der Gruppe.
Übertragen auf die Musik Adriana Hölszkys bezeichnet Maria Kostakeva das Ineinandergreifen immer neuer (Mikro)Prozesse auf verschiedenen Ebenen und ihre plötzliche Wandlung als „Metamorphose“. Sie vergleicht diese sich ständig wandelnden Klänge mit einem „Schwarm": „Mit diesem Begriff bezeichnen Naturwissenschaftler das Verhalten verschiedener Tiere, Fische oder Insekten bei Migrationsbewegungen. Aus einfachen, lokalen Interaktionen werden im Schwarm komplexe Verhaltensmuster.“[10]
Obschon keine expliziten Zäsuren gekennzeichnet sind, wird die Struktur des Stückes doch von verschiedenen formgebenden Momenten geprägt: es lässt sich in der großformatigen Partitur zunächst seitenweise das Prinzip von Aufbau und Steigerung, gefolgt von Einbruch und erneutem Aufbau erkennen (wiederkehrender Gestus von Konstruktion und Dekonstruktion[11]). Die ersten 8 Takte lesen sich wie eine Einführung: kleinformatig etablieren sich divergierende Figuren; verbinden sich in einem Moment (hier durch simultanes Schnalzgeräusch), lösen sich aber in der nächsten Sekunde wieder voneinander. Es dominiert der Geräuschcharakter (Atemgeräusche, Knarrstimme, gerolltes „R“). Lediglich im Sopran kommt in hoher Lage die Singstimme zum Einsatz (Liegeton auf Vokal „a“). Daraufhin bricht die Motivik in sich zusammen und es folgt, was – wenn man es im Hinblick auf die Analogie zum Tierreich sieht – als Stampede bezeichnet werden kann. Eine schlagartige Änderung der Richtung, quasi eine Fluchtbewegung, ausgelöst durch Panik. Die scharfen Ein- und Ausatmer ziehen sich durch den gesamten Chor und rufen Konnotationen an ein animalisches Hecheln hervor. Sie münden in den ersten stehenden Klang im Raum: eine Clusterfermate  der Frauenstimmen (Amplitude g1 bis c3) in extremer Lage (T. 13). Aus der Statik dieser Fermate bricht das Chaos hervor: schnelle, flexible Sechzehntelketten in allen Stimmen, durchwoben von schnellen Konsonanten-Tremoli, die sich gegenseitig aufgreifen, anstacheln und wiederholen. Aber auch hier sammelt sich der Klang und bricht in sich zusammen. Immer wieder folgt der Prozess des Auf- und Abbaus, wobei es sich allerdings nicht um bloße Repetition handelt. Neues Material etabliert sich, nimmt Bezug aufeinander, geht unterschiedliche Kombinationen ein. Die Transformation zwischen Kollektiv und solistischer Aktion ist dabei von großer Bedeutung. Auf in der Dynamik der Kleingruppe strukturierte Klangereignisse folgen Abschnitte, in der sich der Stimmgruppenzusammenhalt auflöst und sich in individuell zugeteilte, feingliedrige Motive zerfasert. Es wirkt fast so, als fokussiere man von Abschnitt zu Abschnitt mit einer Lupe eine andere Ebene  -  ganz so, als ob man von Kammer zu Kammern eines  Formicariums wandert, um den Mikroprozess innerhalb des „Schwarms“ genauer betrachten zu können.
Auf reinen Schönklang ist die Klangvorstellung Adriana Hölszkys wohl nicht ausgelegt. Die Geräuschlandschaft ihrer Kompositionen nimmt stellenweise groteske Charakterzüge an. Denkt man an die Versinnbildlichung der Ameisen, werden ganze Ausschnitte zur komischen Vertonungen der Insekten. So gibt es Passagen, die wie unorganisches, manisches Lachen klingen: alle Vokalist*innen vereinen sich durch ein Cluster in extrem hoher Lage (in den Sopranstimmen bis zum d3) und wiederholen die Silbe „ha“ in variierten und sich wiederholenden Rhythmen. Durch dynamische Extreme wird man als Hörer*in nahezu an eine Belastungsgrenze geführt. Es scheint schwer möglich, sich der Sogwirkung zu entziehen, die Adriana Hölszkys Musik entwickelt[12].
Um diese Klangräume umzusetzen, ist definitiv ein Ensemble erforderlich, das nicht nur die Fähigkeit zur Umsetzung der stimmtechnischen Herausforderungen mitbringt. Ebenso muss die Bereitschaft  vorhanden sein, die teilweise fast szenisch-theatralen Elemente hervorzubringen (eine Tendenz, die sich auch in ihren Instrumentalwerken findet). In der Partitur zu Formicarium[13] ist unter anderem folgende Lautdefinition zu finden: „Umweltgeräusche: Insekten, Tiere, Motoren etc. sehr individualisiert. Jede Stimme soll möglichst sein eigenes Geräusch finden“. Schon in der Spielanweisung zu dem 1989 in Graz uraufgeführten Stück Karawane für 12 Schlagzeuger*innen lässt sich diese Affinität zu ungewohnter Darstellungskunst erkennen: „Der Gesamtklang sollte ähnlich einem Urwald sein, wo völlig unterschiedliche Klangsignale und Geräusche (von Insekten, Vögeln und Tieren) unabhängig voneinander entstehen und vergehen.“
Im Gegensatz dazu kommt die Anwendung der reinen Singstimme nur an ausgewählten Stellen zu tragen. Wird sie oft als Teil einer musikalischen Figur oder komplementär zu einem anderen Laut eingesetzt, fällt es umso mehr ins Gewicht, wenn sie ohne jegliche Trübung angewandt wird. In Formicarium erfolgt nur an zwei Stellen eine völlige Loslösung aus dem Gewebe der Geräuschplastik.
Ein tonale Beziehung ist nicht eindeutig festzulegen: innerhalb des Abschnitts werden in Form von weit aufgefächerten Tonschichtungen alle 12 Halbtöne benutzt. Jedoch ist dem a2 des Soprans durch seine Wiederholung und Position als Spitzenton eine zentrierende Wirkung zuzuschreiben. Auffallend ist zudem, dass in den Passagen mit reinem Einsatz der Singstimme die Tempobezeichnung relativiert wird. Ist in den übrigen Teilen von Formicarium zumindest jede Seite mit einer genauen Metronomangabe versehen, überschreibt Hölszky die gesungenen Stellen mit der Tempoangabe „sehr unregelmäßig“. Es scheint, als wird sich - wenn auch nur für einen kurzen Moment - aus dem strukturellen Sog befreit. Wie ein Dialog zwischen den Stimmgruppen (an dieser Stelle jeweils dreigeteilt), greifen die Töne unter Benutzung verschiedener Vokale ineinander. Der Klang ist durch die Querstände in weiter Lage fast klirrend unheimlich. Die plötzliche Beruhigung zieht eine Ernsthaftigkeit nach sich, die fast wie ein Requiem anmutet. Das unerwartete Auftreten ebendieser runtergeschraubten Passagen könnte auch als ein punktuelles Anhalten, beziehungsweise Verlangsamen der Zeit gesehen werden, um einen Mikroprozess in seinen Einzelheiten genauer betrachten zu können (Slow-Motion-Effect).
 
Das immerwährende Pendeln zwischen den Ebenen und Klangräumen, zwischen Atemlosigkeit und Eruption, horizontaler und vertikaler Expansion, Verdichtung und Zersprengung von Klängen gibt der Musik Adriana Hölszkys ihre ganz eigene Expressivität. Obschon sie in der Tradition der europäischen Moderne steht, sticht sie als Komponistin von Vokalwerken des 21. Jahrhunderts vor allem durch die gründliche und systematische Erforschung von Klangmöglichkeiten der menschlichen Stimme hervor.
 
 
 
 


[1] u.a. in: Helmut Lachemann: Das Mädchen mit den Schwefelhölzer.
[2] Knarrstimme: Tonerzeugung bei simultaner Verengung der Stimmritze, mit sehr niedriger Schwingungsfrequenz.
[3] Flatterzunge :Bildung eines rollenden R-Lauts mit der Zunge.
[4] Handvibrato: durch Verdecken und Freigeben der Mundöffnung mittels der Handfläche Erzeugen des angegebenen Vibrato.
[5] Adriana Hölszky zit. nach Maria Kostakeva 2013, S. 11.
[6] Vgl. Maria Kostakeva (2013), S. 6.
[7] mit knapp 20 Minuten das längste ihrer unbegleiteten Vokalwerke.
[8] Maria Kostakeva 2013, S.6.
[9] ebd.
[10] ebd.
[11] ebd.
[12] „Obwohl die Menge als Ganzes unbeweglich erscheint, entwickelt der Schwarm eine hohe Geschwindigkeit, welche über mehrere Tausend Kilometer an Wegstrecke aufrechterhalten wird. Es wird angenommen, dass die Fortbewegung in geschlossenen Gruppen den Energieverbrauch verringert“ –  Maria Kostakeva 2013, S. 7.
[13]  aber auch schon in …umsphinxt (2000/2001.

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